Stellungnahme von Ostblick, der Regionalinitiative Osteuropa-Studierender Berlin-Brandenburg, zur drohenden Schließung des Institutes für Slawische Philologie an der Philipps-Universität Marburg (Berlin, 16.07.2004)
"Die EU grüßt: Willkommen Osteuropa, Auf Wiedersehen Marburg! Ein weiterer universitärer Osteuropa-Standpunkt wird entsorgt
Vor einer Woche erreichte uns die Information von der bevorstehenden Schließung der Marburger Slawistik. Hiermit protestieren wir als RegionalInitiative OsteuropaStudierender Berlin-Brandenburg und als Mitglied der Initiative OsteuropaStudierender Deutschland in aller Form und aufs Schärfste gegen den geplanten Abbau des Institutes für Slawische Philologie an der Philipps-Universität Marburg.
Mit solch fadenscheinigen Argumenten, wie beispielsweise 'Studierenden- und Erfolgszahlen' (ein Hauptfachstudierender wird für die Statistiker der PUM nicht einmal als ganze Person, sondern nur
als halbe gezählt) wird wieder Abbau an einer der Stellen betrieben, die traditionell in der Bundesrepublik als Stiefkind der Forschung und Lehre behandelt und Opfer politischer Instrumentalisierung wurden. Für 'Kremlin-Watching', also das Erlangen von empfindlichen Informationen über den 'Feind im Osten', gab es noch Gelder vom Bund und von den Ländern. Nun befinden wir uns in einer veränderten Welt: Blöcke in diesem Sinne existieren nicht mehr, viele der ehemals kommunistisch regierten Länder sind seit Anfang Mai gar Mitglieder der Europäischen Union. Jetzt endlich kann man alte Stereotypen hervorholen und sie nutzen, um wieder eine solche Politik zu betreiben, wie sie in Deutschland seit über hundert Jahren Tradition hat: 'Polnischunterricht? Wozu denn - die Polen sprechen doch eh alle deutsch und wollen in Deutschland arbeiten '. Was hier polemisch klingt ist im Grunde genommen nichts anderes, als die Wiedergabe dessen, was man unseren Bemühungen entgegenhält und was geschönt im Gewande der allgemein grassierenden Finanznot wieder hoffähig wird.
Wer mitreden will, muss ausbilden! Wer den Anspruch hat, in vielen Ländern der Welt, also auch in Mittel- und Osteuropa präsent zu sein, der muss auch mit der Forderung nach intensiver, expliziter und unabhängiger Wissenschaft, die aus eigenen Mitteln finanziert wird, leben können. Wer generell nur nach der direkten wirtschaftlichen Verwertbarkeit von Bildung und Wissenschaft fragt, der ignoriert die Tatsache, dass moderne Gesellschaften in sich funktional differenziert sind und erst das Zusammenspiel der einzelnen Teile über 'Erfolg oder Misserfolg' des Gesamten entscheidet. Wirtschaft ist ein Teilaspekt gesellschaftlichen Lebens, sie ist aber nicht der einzig bestimmende Faktor und darf es auch nicht werden. Der Nutzen, den eine Gesellschaft von einer vielschichtigen und fundierten Wissenschaft hat, lässt sich nicht in materiellen Werten allein bemessen. Wer Forschung und Lehre unbedacht und sinnlos zerstört, der wird mitschuldig am fortschreitenden Informationsverlust und der kulturellen und wissenschaftlichen Verarmung unserer Gesellschaft, die sich im Gegenzug natürlich negativ auf Politik und Wirtschaft auswirkt. Wer von Osteuropa nichts weiß oder den Gegenstand Osteuropa nur aus sekundären, gar englischsprachigen Quellen kennt, dem werden nicht wieder gut zu machende Fehler in seinen Handlungen unterlaufen. Das anscheinend momentan favorisierte Ausbildungsmodell '(sog.) Kerndisziplin + (Fremd)Sprachkurs' bringt noch lange keine SpezialistInnen hervor. Darüber hinaus versteht es sich von selbst, dass auch diejenigen, die
Sprache unterrichten ausgebildet werden müssen.
Deutschland ist nicht bereit für die EU-Erweiterung. Seit der Gründung von Ostblick im Juli 2002 sind deutschlandweit mehr als 15 universitäre Einrichtungen mit Osteuropabezug geschlossen, oder derartig in ihrer Ausstattung beschnitten worden, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch sie geschlossen werden oder sinnentleert in andere Fachbereiche überführt werden. Hierunter befinden sich auch das Institut für Slawistik an der HU zu Berlin und
das Osteuropa-Institut der FU Berlin. Häufig geschieht dies im Verborgenen, so dass selbst die beteiligten Institute kaum noch Zeit haben, zu reagieren. In Zeiten von PISA-Schock und Bildungsmisere fällt den Verantwortlichen nichts besseres ein, als sogenannte Kompetenzzentren und Elitestudiengänge zu entwerfen.
Hierin kann man nur zu oft eine Überreaktion erblicken, geboren aus der eigenen Schwäche und Unfähigkeit mit der Situation umzugehen. Sicherlich muss sich eine Gesellschaft und die ihr zugehörigen Subsysteme ständig erneuern, müssen auch an deutschen Universitäten Überlegungen angestellt werden, wie mit weniger finanziellen Mitteln, noch vernünftig ausgebildet werden kann und wie man die meist unübersichtlichen Verwaltungsstrukturen reformiert, muss man jungen Menschen wieder vermitteln können, was den Sinn eines Studiums darstellen kann, und sie davor bewahren, jahrelang ohne Ziel und mit wenig Wissenschaftlichkeit zu studieren. Dies darf aber nicht mit einer inneren Polarisierung in Anhänger der 'Natur- und Geisteswissenschaften' einhergehen, mit einer Unterscheidung in 'produktive und unproduktive Studienfächer', wie jüngst in den Hochschuldebatten in Berlin und Hamburg der Fall gewesen. Auch können und dürfen hier nicht allein kurzfristige marktwirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend sein - der Standort Deutschland verliert seinen 'Standortfaktor', nämlich die breite und zudem fundierte Wissenskultur. Und er verliert sie nicht allein, dadurch, dass man sich jahrelang auf den Lorbeeren ausgeruht und somit die Strukturen
hat verkrusten lassen, sondern auch deswegen, weil man in dem Moment, da man das Problem endlich erkannt hat, versucht innerhalb kürzester Zeit allein die Symptome loszuwerden. Dabei bleiben naturgemäß die 'Schwächsten' auf der Strecke und zu denen gehören leider auch die Slawistik oder die Osteuropäische Geschichte.
Wir fordern die Verantwortlichen dazu auf, dem voranschreitenden Tod der osteuropabezogenen Wissenschaften in Deutschland endlich ein Ende zu machen. Mit dem Institut für Slawische Philologie wird ein weiteres, renommiertes Institut, dass sich auch um die Verständigung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Staaten Osteuropas
verdient gemacht hat, sterben."