Editorial

"Den ersten Beitrag dieser neuen Zeitschrift leitet Klaus-Peter Matschke mit den Worten ein, daß Südosteuropa existiere, lasse sich kaum bestreiten, wo es sich aber befinde und wie und wann es zu dem geworden sei, was es in seinem Äußeren und Inneren heute ausmache, sei dagegen schwer zu sagen. Die von Matschke zugespitzt formulierte These mag nach zwei Jahrhunderten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Südosten des europäischen Kontinents desillusionierend scheinen. Man kann sie aber auch als Ansporn begreifen. Raumfragen gehören ebenso zu den "ewigen" Diskussionsproblemen der Südosteuropaforschung wie die Fragen nach der "Modernisierung" der Region oder den Prozessen der dortigen Staatenbildung, nach Identität und Nationalismus oder nach den Besonderheiten der südosteuropäischen Kulturen. All dies sind alte Fragen, auf die mit dem immer wieder frisch geschärften Methodenarsenal der modernen Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften neue Antworten zu finden sind. Wie groß der Bedarf nach solchen Antworten ist, zeigt nur allzu deutlich die verbreitete Ratlosigkeit in Weltöffentlichkeit und Weltpolitik angesichts des Desasters, das sich im Verlaufe der neunziger Jahre auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien abgespielt hat. Die Ereignisse des letzten Jahrzehntes haben auf traurige Weise belegt, daß der Bedarf an multidisziplinärer und raumübergreifender Grundlagenforschung noch lange nicht gedeckt ist.

Redaktion und Verleger wollen mit dieser Zeitschrift der Debatte über Südosteuropa ein neues Forum bieten. Die Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas (JGKS) verstehen sich als Diskussionsangebot für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an einer historischen Sozialwissenschaft Südosteuropas mit allen ihren "Erweiterungen" interessiert sind. Die Frage, ob nun "Kultur" oder "Gesellschaft" der Leitbegriff sei, um den die Beschreibung und Erklärung der sozialen Welt gruppiert werden sollte, ist für die Redaktion der JGKS offen, so offen, wie die JGKS für Beiträge sind aus dem weiten Feld zwischen "klassischer" Sozial- und Gesellschaftsgeschichte und einer sich dem Blick auf die Gesellschaft nicht verschließenden Politikgeschichte, zwischen historischer Anthropologie und Ethnologie, zwischen Kulturgeschichte oder Literatursoziologie. Gefragt ist die ganze Bandbreite südosteuropabezogener Forschung, ohne Verengung entlang disziplinärer Grenzen. Weite und Breite sollen auch in epochaler Hinsicht gelten: Auch in der Südosteuropaforschung sind die Brücken zwischen Mediävistik und Neuzeitforschung immer noch schmal, agieren Byzantinisten, Osmanisten und Neuzeithistoriker eher neben- als miteinander. Auch hier hofft die Zeitschrift einen Brückenschlag leisten zu können. Beiträge zu allen Epochen vom Mittelalter bis zu den Umbrüchen der Gegenwart können und sollen dazu beitragen.

Die historische und sozialwissenschaftliche Forschung hat in jüngerer Zeit dem Vergleich gesteigerte Aufmerksamkeit geschenkt, und sie erwartet von ihm besonderen Erkenntnisgewinn. Unabhängig davon, ob nun der Vergleich der "Königsweg der Geschichtswissenschaft" ist oder nicht, fühlt sich ihm auch diese Zeitschrift in besonderer Weise verpflichtet. Sie möchte auf diesem Wege zugleich dazu beitragen, die Südosteuropaforschung noch stärker in allgemeine Forschungs- und Diskussionszusammenhänge zu integrieren und ihr so die Aura einer gleichsam "exotischen" Regionalwissenschaft zu nehmen. Intra- wie interregional vergleichende methodische Ansätze sollen daher besonders gepflegt werden. Erwünscht sind sowohl vergleichende Studien, bei denen Südosteuropa im Zentrum steht, als auch Arbeiten, welche die Region in den breiteren Kontext der gesamteuropäischen Geschichte stellen, oder interzivilisatorische Vergleiche. Besonderheiten und Eigenheiten der Region als Ganzer oder einzelner ihrer Teile können nur in vergleichender Perspektive erschlossen werden.

Ob man dem umfassenden Südosteuropabegriff den Vorzug geben, und damit die Interdependenzen, Interferenzen und Gemeinsamkeiten des Raumes in den Vordergrund rücken, oder aber lieber nur den "Balkan" zum historischen Strukturbegriff erheben sollte, ist eine offene und umstrittene Frage; an plausiblen Antworten ist die Redaktion interessiert. Daß zwischen den Völkern im Südosten Europas nach wie vor nicht nur Trennendes, sondern auch viel Gemeinsames und Verbindendes steht, wie selbstverständlich auch zwischen "Europa" und dessen Südosten, dürfte aber unstrittig sein. Schon Franz Palacký hat in einem aus ganz anderen Gründen bekannten Text darauf hingewiesen, der in diesem Band der JGKS neu vorgestellt werden soll. "Der Süd-Osten von Europa", so schrieb er an das Paulskirchenparlament, sei "von mehren in Abstammung, Sprache, Geschichte und Gesittung merklich verschiedenen Völkern bewohnt", von "Slawen, Wallachen, Magyaren und Deutschen, und der Griechen, Türken und Schkipetaren nicht zu gedenken", die gleichwohl alle in Palackýs Augen einen "nothwendigen Völkerverein" bildeten. Die von Palacký getroffene markante Zweiteilung ist dennoch nicht zu übersehen. Sie verweist auf die Geschichte der gegenseitigen Perzeptionsweisen, der Fremd- und Selbstwahrnehmungen, der Konstruktion und Dekonstruktion von Identitäten, deren wissenschaftliche Untersuchung im Falle Südosteuropas noch immer erst am Anfang steht. In Zeiten, in denen der Wahrnehmungsgeschichte und der Geschichte von Symbolwelten fast überall besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, hofft auch die Redaktion der JGKS, mit "ihren" Seiten zur Fortschreibung dieser Geschichte beitragen zu können.

Die Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas möchten aktuelle Diskussionen zu Methoden- und Theorieproblemen mittragen und auf ihre Relevanz für die Geschichtsregion Südosteuropa befragen. Sie möchten zu Kontroversen anregen und Raum für unterschiedliche Standpunkte schaffen. Themenhefte sollen eine konzentrierte Behandlung besonderer Fragestellungen ermöglichen. Die Zeitschrift ist ebenso offen für Aufsätze bilanzierenden Charakters oder "größere" Deutungsversuche wie für interessante und innovative Forschungsarbeiten zu "Detailfragen". Ein gesondertes Diskussionsforum soll die Ergänzung, die Gegenrede oder auch die Kritik zu vorher behandelten Schwerpunktthemen ermöglichen. Eine weitere Rubrik dient der Edition wichtiger und ungewöhnlicher Quellen und Dokumente.

Die Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas wollen auf diesem Wege mithelfen, den noch immer vorhandenen Graben zwischen moderner "Allgemeiner" Geschichte und Südosteuropaforschung zu schließen. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind ebenso nachdrücklich zur Mitarbeit aufgefordert wie Autorinnen und Autoren aus den Ländern Südosteuropas selbst. Beiträge werden in deutscher, englischer oder französischer Sprache publiziert. Auch damit hofft die Zeitschrift zur Festigung der internationalen "scientific community" der Südosteuropaforschung beizutragen."

(Editorial in Band 1 (1999) der Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas, S. 7-9.)